„Ich dachte, wir seien schon weiter – die staatstragende Geschichte zieht nicht“ –Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Kerstin Brückweh über ostdeutsche Perspektiven auf 75 Jahre Grundgesetz

Warum wurde die Wiedervereinigung 1989 nicht als Anlass für eine gesamtdeutsche Verfassung genommen? Und warum wird das 75-jährige Bestehen des Grundgesetzes gefeiert, wenn es in Teilen des Landes erst seit 34 Jahren gilt? Darüber diskutierte die Historikerin und Viadrina-Professorin für Historische Stadt- und Raumforschung Prof. Dr. Kerstin Brückweh gemeinsam mit Rechtsexperten und einer Gewerkschaftsvertreterin im Rahmen einer Campustour der Gesellschaft für Grundrechte (GFF) am 14. Mai 2024.

Vielerorts wird gerade der 75. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert. Die Bundesregierung veranstaltet dafür Ende Mai sogar eigens ein dreitägiges Fest und zelebriert es als Erfolgsgeschichte. Die Historikerin Prof. Dr. Kerstin Brückweh zweifelt aber genau dieses Narrativ als Erfolgsgeschichte an, denn nicht überall in Deutschland gilt das Grundgesetz tatsächlich seit 1949, in Ostdeutschland trat es erst 1990 in Kraft. Der neue Sammelband „Die Wiederbelebung eines »Nicht-Ereignisses«? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994“, den Kerstin Brückweh herausgab, widmet sich der Frage, warum die Wiedervereinigung nicht zum Anlass einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung genommen wurde.

Auf die Frage von Prof. Dr. Eva Kocher, die den Abend moderierte, welche Bestrebungen es für eine neue Verfassung gab und warum es am Ende doch ein Nicht-Ereignis war, sagte Kerstin Brückweh, dass man sich zunächst in die Zeit von 1989/90 zurückversetzen müsse. Diese sei von Erschütterungen, neuen Möglichkeiten und maßgeblich dem Ende des Kalten Krieges und den Nachwehen der friedlichen Revolution in der DDR geprägt gewesen. Es hätte mehrere Bestrebungen gegeben, neue Verfassungen auszuarbeiten. Diese seien aber durch die Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag nichtig geworden. Es kam zu einem sogenannten Nicht-Ereignis. Ein Begriff, der nicht von Kerstin Brückweh stammt, sondern den der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr geprägt hat.

Der Sammelband ist das Ergebnis eines Arbeitskreises, an dessen Anfang auch die Frage stand, ob es eine verpasste Chance ist, dass anlässlich der Wiedervereinigung keine gesamtdeutsche Verfassung konstituiert wurde. Bei der Diskussion bejahte Kerstin Brückweh dies ganz klar. Dabei geht es ihr vor allem um die symbolische Funktion, die eine neue Verfassung gehabt hätte. Bei der Podiumsdiskussion wurde schnell klar, dass es aber nicht darum geht, die juristische Legitimität des Grundgesetzes in Frage zu stellen. Dr. John Philipp Thurn, Mitglied des Vorstandes der GFF und Richter am Sozialgericht Berlin, unterstrich den hohen juristischen Wert der Verfassung. Das betonte auch Prof. Dr. Jan Thiessen, Professor für Bürgerliches Recht, Juristische Zeitgeschichte und Wirtschaftsrechtsgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. In dem Kontext gehe es viel mehr darum, warum man die Gelegenheit verpasst habe, miteinander zu sprechen, so Jan Thiessen. Für Kerstin Brückweh ist es wichtig, die Erzählungen zu hinterfragen, die gesellschaftlich mit dem Grundgesetz verknüpft sind. 75 Jahre Grundgesetz – darin stecke ein westdeutsches Erfolgsnarrativ, das eine ostdeutsche Perspektive ausschließt.

In der Rückschau sei es nachvollziehbar, dass für DDR-Bürgerinnen und -Bürger viele Probleme und existenzielle Fragen schlicht drängender waren, als das Grundgesetz. „Die Verfassung stand einfach nicht ganz oben“, sagte Kerstin Brückweh. Eva Kocher gab zu bedenken, dass sich die Relevanz einer neuen Verfassung für Bürgerinnen und Bürger manchmal weit weg anfühlen würde. „Das Grundgesetz ist ein Symbol, das schnell technisch ist“, so Kocher. Die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994 seien laut Kerstin Brückweh aber keineswegs nur zwischen Ost und West ausgetragen worden. Es sei vor allem auch eine Aushandlung zwischen progressiven und konservativen Kräften gewesen, über die Grenzen hinweg.

Dass man diese verpasste Chance nachholen kann, bezweifelt Kerstin Brückweh. Dafür fehle es an einem „constitutional moment“, der 1989 gegeben war, der fehle jetzt. Über den aktuellen Diskurs und die fehlenden Perspektiven in den aktuellen Feierlichkeiten zeigte sich Kerstin Brückweh enttäuscht: „Ich dachte wir seien schon weiter – die staatstragende Geschichte zieht nicht“, so Kerstin Brückweh.

Text: Lea Schüler
Fotos: Heide Fest

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